Adipositas: Therapie braucht den Blick auf das Stigma
Neujahr – Zeit der guten Vorsätze. Für viele Menschen mit Übergewicht und Adipositas steht ein großer Wunsch im Vordergrund: „Abnehmen! Ich will endlich normales Gewicht!“ Im Innersten zweifeln diese Menschen häufig daran, dass dieser Wunsch jemals Wirklichkeit wird. Ein Zweifel, der nicht nur von vielen gescheiterten und vergeblichen persönlichen Abnehm-Versuchen genährt wird: Dick-Sein ist mit einem Stigma belegt ist. Es lähmt die Betroffenen wie eine Fessel, aus der es aus eigener Kraft keine Befreiung gibt.
Der Druck, unter den die Stigmatisierung die Betroffenen setzt, ist nach Ansicht der Psychotherapeutin und Adipositas-Expertin Prof. Claudia Luck-Sikorski ein Hauptgrund für das Scheitern vieler Ansätze der klassischen Adipositastherapie auf der Basis von Ernährungsumstellung und Diäten. Nach Meinung der Professorin für Psychische Gesundheit und Psychotherapie an der Hochschule für Gesundheit Gera wäre ein Verzicht auf die bisher üblichen Schuldzuweisungen vor jeder Diät Voraussetzung für eine erfolgreiche Therapie: „Sie gefährden den Erfolg der Behandlung. Solange wir auf dem Einzelnen herumhacken und sagen, dass der sich eigentlich nur ändern muss, um das Problem Übergewicht zu lösen – solange wird es keine echten Lösungen dafür geben.“
Adipositas – ein menschlicher Makel?
Ein Stigma ist ein ‚menschlicher Makel‘, der Einzelnen oder Personengruppen von ihrer Umgebung zugeschrieben wird. Wenn Menschen, die in bestimmten Eigenschaften von der gesellschaftlichen Norm abweichen, von ihrer Umgebung diskreditiert werden, kann daraus für die Betroffenen ein Stigma entstehen. Wenn Dicke z.B. verbreitet als willensschwach, hässlich, zügellos, unberührbar und faul gelten, sind das Zuweisungen, die Übergewicht und Adipositas zum Kainsmal machen, zum sichtbaren äußeren Zeichen all dieser unerwünschten Eigenschaften. Folge dieser verallgemeinernden Zuschreibung sind oft Vorurteile, die nicht selten in Diskriminierung münden. So wird Adipositas zum Stigma, das bei Betroffenen großen Leidensdruck auslösen kann, im Extremfall vergleichbar vielleicht mit dem Gefühl, ein Aussätziger zu sein.
„Friss einfach weniger!“
Wie sich das anfühlt? „Alle Dicken sind derselben Ausgrenzung unterworfen. Jeder hat das Recht, sie zu verachten. Und wenn sie sich darüber beklagen, wie man sie behandelt, denken eigentlich alle dasselbe: Friss weniger, Fettsau, dann kannst du dich auch integrieren.“ Deutlicher lässt sich das Stigma Adipositas wohl kaum beschreiben. Das Zitat stammt von einer der Figuren in „Vernon Subutex“, dem jüngsten Roman der französischen Schriftstellerin Virginie Despentes, die von der Kritik in Frankreich und Deutschland gerade begeistert gefeiert wird. Die Autorin lässt ihre Protagonistin weiter über ihr Schicksal als ehemals dicke Jugendliche reflektieren: „Mit den Dicken kann man sich alles erlauben. Sie in der Kantine anmotzen, sie beschimpfen, wenn sie auf der Straße essen, ihnen gemeine Spitznamen geben, sie auslachen, wenn sie Fahrradfahren, sie ausgrenzen, ihnen Diätempfehlungen geben, ihnen sagen, sie sollen still sein, sobald sie den Mund aufmachen, sie auslachen wenn sie gestehen, dass sie gern jemandem gefallen würden, das Gesicht verziehen, wenn sie irgendwo aufkreuzen. Man kann sie schubsen, in den Wanst kneifen oder mit Füßen treten: Niemand wird sie verteidigen.“ Anschaulicher lässt sich das Stigma wohl kaum beschreiben.
Adipositas braucht neue Therapieansätze
Despentes‘ übergewichtige Jugendliche schafft es schließlich mit professioneller Hilfe. „Mit 17 stieß sie eine höchst diktatorische Ernährungsberaterin auf das Gleis einer drakonischen Diät. Sie war jemand, der fünf Jahre immer auf dem Bahnsteig stehen geblieben ist – diesmal funktionierte es, warum auch immer: diesen Zug nahm Sie mit, und nach sechs Monaten war sie ein anderer Mensch. ….In sechs Monaten hatte sie 18 Kilo abgenommen.“ Wie schön, dass es – warum auch immer – funktioniert hat. Im richtigen Leben funktioniert der Weg über drakonische Diäten tatsächlich nur selten. Prof. Luck-Sikorski : „Man kann diesen Menschen kein Konzept nach dem Muster präsentieren: ‚Jetzt mach halt dies oder das, dann wird das schon klappen bei dir.‘ Die Therapie muss komplett weg von der Belehrung! Diesbezüglich läuft momentan aber noch vieles schief. Das Problem ist so höchst individuell, dass diese einfachen Lösungen zum Scheitern verurteilt sind. Und sie scheitern ja auch tatsächlich. Immer wieder! Ernährungstherapie für adipöse Menschen sollte grundsätzlich auf der Basis einer Therapeutischen Allianz stehen, wie wir sie aus der Psychotherapie kennen: Als respekt- und vertrauensvolle Zusammenarbeit von Therapeut und Patient bei gemeinsamer Definition des Therapiezieles und des Weges dorthin.“
Dr. Friedhelm Mühleib
Mehr zum Thema: Interview mit Prof. Luck-Sikorski im tellerrandblog
Veranstaltung: Unter dem Titel „Adipositas – ein menschlicher Makel“ vermittelt Prof. Luck-Sikorski im Februar praxisorientierte Maßnahmen und Methoden zum Umgang mit der Stigmaproblematik für Fachkräfte der Ernährungsberatung. Das Tagesseminar findet in der Reihe „Fachseminare für Ernährungsprofis“ im Seminarhaus freiraum statt.
Beitragsfoto: Copyright Jana Hesse/DAK-Gesundheit