Gestern war Welt-Diabetestag. Für Fachkräfte in der Ernährungsberatung, die mit Diabetikern arbeiten, ist jeder Tag Diabetestag. Zum Beispiel für Dr. Astrid Tombek. Die Diplom Oecotrophologin arbeitet seit 1998 am Diabetes-Zentrum Bad Mergentheim im Schulungsteam und übernahm 2003 dessen Leitung. Diabetesberatung und -schulung ist für sie seit 20 Jahren Beruf und Berufung zugleich. Ihre Hauptaufgabe ist – zusammen mit ihrem 16-köpfigen Team aus Diabetesberatern, Oecotrophologen, Diätassistenten, und Erziehern – das Patienten-Management, von der Anmeldung bis zur Entlassung mit einem Schwerpunkt auf der Schulung.
Die großen Fortschritte im Bereich der Betreuung der Betroffenen während dieser Zeit reichen ihrer Meinung jedoch bei Weitem nicht aus, der befürchteten Lawine an Neuerkrankungen in den kommenden Jahren Herr zu werden. Im Gespräch mit docFood sieht sie einen großen Bedarf an Ernährungsfachkräften, die nach ihrer Einschätzung von der Ausbildung her prädestiniert dafür wären, die große Lücke an Fachkräften im Diabetesbereich zu füllen und übt vor allem auch an der nach wie vor verhaltenen Kooperationsbereitschaft vieler Mediziner Kritik.
docFood: Viele Experten warnen vor einem dramatischen Anstieg der Diabetesfälle in den nächsten 10 bis 15 Jahren. Müssen wir tatsächlich mit dem Schlimmsten rechen?
Tombek: Ich halte die Prognosen für realistisch, zumal die Fallzahlen, von denen derzeit die Rede ist, viel zu niedrig angesetzt werden. Das Problem sind die Grenzwerte der WHO, nach denen ein Blutzucker zwischen 110 und 126 mg/dl als Prädiabetes eingestuft wird. Ich lehne mich jetzt mal weit aus dem Fenster und sage: Prädiabetes gibt es nicht! Nüchtern-Werte über 110 sind Diabetes, nicht Prädiabetes. Würde diese Position anerkannt, dann wären die Zahlen gigantisch. Im Grunde sollte man beim Check-up nicht den Nüchtern-Blutzucker, sondern den Hb1C messen. Jeder Hb1C-Wert über 6 % wäre dann Diabetes. Große Sorgen macht mir momentan vor allem die Beobachtung, dass die Betroffenen immer jünger werden. Vor 17 Jahren, als ich mit Schulungen angefangen habe, lag das Durchschnittsalter der Erstdiagnosen knapp unter 70 Jahren. Heute überwiegen die 40- bis 50-Jährigen, und in jeder Gruppe gibt es junge Menschen zwischen 14 und 20 Jahren. Das Manifestationsalter hat sich enorm verschoben. Das finde ich absolut erschreckend.
docFood: Wo sehen sie die Ursachen dafür?
Tombek: Ich glaube, dass eine Kombination aus Genetik und den verschiedensten Lifestylefaktoren dafür verantwortlich ist – zu wenig Bewegung, zu viele Kalorien sowie Stress als Verursacher und Verstärker. Unser Essen hat sich extrem verändert: viele gesättigte Fettsäuren und Transfettsäuren, viele Kohlenhydrate, zu wenige Ballaststoffe. Die Kombination aus Bewegungsmangel in Kombination mit zu viel Essen, Fett, Kalorien und Zucker – das ist ein Killer. Überall und jederzeit gibt es ein Angebot: Softdrinks, Fastfood, Pizza, Süßigkeiten, Brötchen, Teilchen. Es wird immer überall gegessen! Das ist das Hauptproblem.
docFood: Brauchen wir mehr Prävention?
Tombek: Absolut! Was momentan passiert, ist zu wenig, und es passiert vor allem zu spät. Die Prävention – gerade auch beim metabolischen Syndrom – erreicht die Menschen nicht. Sie sorgen sich nicht um Dinge, die vielleicht irgendwann in der Zukunft, in 10, 20 oder 30 Jahren, passieren werden. Diabetes tut ja erst mal nicht weh. Und wenn er dann kommt, nimmt man halt erst mal ein paar Tabletten. Dass das Folgeerkrankungen und massive Schädigungen nach sich zieht, wird gar nicht wahrgenommen. Im Grunde müsste man im Kindesalter mit der Aufklärung über Bedeutung undmFolgen des Essens anfangen. Dann hätte man vielleicht eine Chance, dass die Menschen später eine normale, gesundheiterhaltende Ernährung praktizieren – auch wenn dann mal eine Fast-Food-Phase in der Pubertät dazwischenliegt. Was man von klein auf gewöhnt ist, dazu kehrt man dann vielleicht später zurück.
docFood: Haben die Ärzte Bedeutung und Möglichkeiten der Ernährung im Zusammenhang mit dem Diabetes eigentlich in vollem Umfang erkannt?
Tombek: Das ist sicherlich ein Problem. Diabetes wird nach wie vor nicht ernst genug genommen – und die Betroffenen werden von den Ärzten einfach nicht in die Ernährungsberatung weiter verwiesen. Hausärzte müssten Patienten, deren Laborwerte auf die Entwicklung eines Diabetes hinweisen, schon früh in die Ernährungsberatung schicken. Genau das passiert aber nicht. Es braucht einen finanziellen Anreiz für die Hausärzte, damit die das machen – und den gibt es derzeit nicht.
docFood: Die Alternative wäre, dass Ernährungsberater aktiver auf die Ärzte zu gehen?
Tombek: Ja, absolut! Es ist mir ein echtes Anliegen, unseren Kollegen zu sagen: Wendet euch aktiv an die Ärzte – vor allem auch die Hausärzte – und bietet eure Leistungen an. Denn diese gehen nicht immer gerne auf andere zu. Ich bin sogar überzeugt, dass sie dafür dankbar wären und entsprechende Angebote gerne annehmen würden. Wenn der Prophet nicht zum Berg kommt, muss der Berg eben zum Propheten gehen. Viel zu viele denken immer noch, dass Mediziner in einer anderen Liga spielen würden. Aber das ist nicht mehr so – und die Generation von Ärzten, die jetzt nachwächst, ist in der Mehrheit durchaus teamfähig. Die sind meiner Erfahrung nach für alles dankbar, was man ihnen an Unterstützung gibt. Ich habe es jedenfalls immer so erlebt. Erfolgreiche Diabetologie geht sowieso nur in Teamarbeit, und jeder Arzt, der sich der Diabetologie verschreibt, weiß, dass das nur im Team geht. Unseren Leuten erspart das trotzdem nicht das Klinkenputzen, um sich bekannt zu machen.
Das Gespräch führte Friedhelm Mühleib
Foto: © A. Tombek
Text Quelle: Auszug aus einem Interview von Dr. Friedhelm Mühleib mit Dr. Astrid Tombek in Heft 02-2014 der VDOE POSITION