„Bis vor wenigen Jahren wurde gezielt der Eindruck vermittelt, dass Statine die neuen ‚Wunder-Wirkstoffe‘ sind, die keine Risiken haben, dafür aber unzählige Leben retten.“ meint Prof. Dr. Martin Smollich, Fachapotheker für Klinische Pharmazie und Professor für Clinical Nutrition in Rheine im Interview mit docFood. Smollich, Mitglied der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, spricht von einer „Statinisierung der Gesellschaft“ – getrieben nicht zuletzt von den Marketing-Abteilungen der pharmazeutischen Industrie. Hintergrund des Gesprächs mit Smollich ist die aktuelle Veröffentlichung eines Reviews zur Bewertung der Statine im angesehenen Wissenschaftsmagazin Lancet und der aktuelle Streit über Risiken und Nutzen der Statine. Fazit des Reviews – auf einen einfachen Nenner gebracht: Schluck Statine – und alles wird gut. Im exclusiven Interview mit docFood spricht Smollich darüber, warum man es sich nicht ganz so einfach machen kann – und plädiert für eine differenzierte Sichtweise.
docF: Herr Prof. Smollich, was sind Statine und wer sollte sie nehmen?
Prof. Smollich: Kurz gefasst kann man sagen: Die pharmakologisch heterogene Wirkstoffgruppe der Statine ist eine Gruppe sehr wirksamer Substanzen, deren Hauptwirkung in einer Hemmung der körpereigenen Cholesterinbiosynthese besteht. Insbesondere für die Indikation der Hypercholesterinämie sind sie die einzige Wirkstoffgruppe, die tatsächlich zu einer relevanten Mortalitätsreduktion führt – und das ist ja der „härteste“ klinische Endpunkt, den es geben kann. Trotzdem darf man nicht vergessen, dass auch die Statine bei Hypercholesterinämie nur dann zulassungskonform angewendet dürfen, wenn Diät und andere nicht-pharmakologische Maßnahmen allein nicht ausreichend wirksam sind.
docF: Der Lipobay-Skandal ist längst vergessen und inzwischen gelten Statine gemeinhin als Medikamente mit geringen Nebenwirkungen.
Prof. Smollich: Diese Ansicht wird gerade einmal wieder durch den im Lancet publizierten Review von Collins und seinen Mitautoren unterstützt, der den erheblichen Nutzen der Statin-Therapie betont: Danach sei die Statin-induzierte Myopathie viel seltener als angenommen und außerdem harmlos, da sie sich nach Absetzen der Statine in der Regel wieder zurückbilde; die Herzinfarkte und Schlaganfälle, die durch eigenmächtiges Absetzen der Statin-Therapie auftreten können, seien dagegen erheblich gravierender. Folglich seien die Risiken der Statin-Therapie in der Bevölkerung über- und die Vorteile unterbewertet. Die Schlussfolgerungen des Reviews sind allerdings durchaus mit Vorsicht zu genießen.
docF: Die Studie stellt also – salopp gesagt – einen Freibrief für den Einsatz von Statinen aus. Mit Milliardenumsätzen weltweit gehören die Statine zu den Blockbustern der Pharmaindustrie – was zu der naheliegenden Frage führt, wie nahe die Autoren solcher Studien den Herstellern stehen.
Prof. Smollich: Ohne Böses zu unterstellen lässt sich konstatieren, dass fast alle Autoren dieses Reviews seit Jahren Honorare von jenen pharmazeutischen Unternehmen erhalten, die auch Statine herstellen und vertreiben. Vor kurzem gab es eine große Untersuchung, die zeigte, dass eine Statin-kritische mediale Berichterstattung dazu führt, dass Patienten ihre Statin-Therapie vermehrt ohne ärztliche Rücksprache absetzen, was direkte gesundheitliche Risiken bedeuten kann. Die Studie von Collins liest sich wie eine Replik darauf mit dem Fazit: Esst alle schön brav Eure Statine auf! Das darf man durchaus in Verbindung mit der Tatsache sehen, dass die Information über mangelnde Compliance der Patienten auch ökonomische Risiken für die Hersteller birgt.
docF: Noch vor kurzem hat der Pharmakritiker Prof. Gerd Glaeske den übertriebenen Einsatz von Statinen kritisiert und stattdessen gefordert, den Fokus stärker auf Möglichkeiten z. B. der Ernährungstherapie zu richten. Hat er Recht?
Prof. Smollich: Dass die Statin-Anwendung tatsächlich häufig kritisch gesehen wird (und zwar nicht nur von medizinischen Laien, sondern auch von Ärzten) liegt vor allem daran, dass es die Marketing-Abteilungen der pharmazeutischen Industrie in der Vergangenheit mit der „Statinisierung der Gesellschaft“ doch etwas weit getrieben haben: Nicht nur in Publikumsmedien gab es bis vor wenigen Jahren den gezielt vermittelten Eindruck, dass Statine die neuen „Wunder-Wirkstoffe“ sind, die keine Risiken haben, dafür aber unzählige Leben retten. Ein besonderes krasses Beispiel dafür sind auch die aktuellen US-amerikanischen Leitlinien (ACC/AHA) zur Indikationsstellung für die Statin-Anwendung: Wenn man diese Leitlinien anwendet, sind Statine bei 33% (!) der amerikanischen Gesamtbevölkerung indiziert! Das liegt daran, dass die Indikation nicht nur für alle Diabetiker gesehen wird, sondern auch für alle völlig gesunden Männer ab 59 Jahren bzw. für alle völlig gesunden Frauen ab 68 Jahren.
docF: Die amerikanischen Leitlinien leiten ihre Empfehlungen aus Studien ab, die zeigen, dass die entsprechenden Bevölkerungsgruppen von einer Statintherapie gesundheitlich profitieren. Wie zwingend sind diese Erkenntnise hinsichtlich der Schlussfolgerung, man müsse in noch breiterem Rahmen Statine verordnen?
Prof. Smollich: Eine Statin-Therapie ergibt tatsächlich und unstrittig einen statistischen Vorteil für diese ‚Bevölkerungsgruppen‘ – von „Patienten“ möchte ich in diesem Zusammenhang gar nicht sprechen, da ja wie erwähnt auch völlig gesunde Menschen von der Indikation der Leitlinie erfasst sind. Dies bedeutet jedoch keineswegs, dass dieser Vorteil auch klinisch relevant ist. Entsprechende Effekte sind bei extrem großen Studienkollektiven nicht selten: So kann auch eine HDL-Erhöhung von 55 mg/dl auf 57 mg/dl statistisch signifikant sein, der klinische Nutzen dieses Effektes ist dabei noch lange nicht gegeben. Bei der Anwendung der amerikanischen Leitlinien wird daher eine number needed to treat (NNT) von ca. 600 Patienten pro Jahr als sinnvoll angesehen: d. h., 600 Patienten müssen ein Jahr lang mit einem Statin behandelt werden, damit ein einziger Patient davon profitiert – 599 Patienten hätten von der Einnahme keinen Vorteil, aber alle Risiken. Eine derartige Relation erscheint vollkommen absurd. Die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) geht davon aus, dass erst ab einer NNT < 250/Jahr der klinische Nutzen einer Statin-Therapie überwiegt – und selbst hierbei würden 249 Patienten ohne Nutzen behandelt. Auch hier wäre zu erwähnen, dass von den an der Erstellung der amerikanischen Leitlinie beteiligten 15 Autoren immerhin 8 explizite Geschäftsbeziehungen zu Statin-produzierenden Pharmaindustrie unterhalten.
docF: Aus dieser Perspektive erscheint der Nutzen einer breit streuenden Therapie mit Statinen in einem kritischen Licht – ganz zu schweigen von den enormen Kosten. Muss man in diesem Zusammenhang nicht auch die Risiken anders bewerten? Konkret: Sind die Risiken so sehr zu vernachlässigen, wie Collins & Co. Glauben machen wollen?
Prof. Smollich: Tatsächlich bagatellisiert der aktuelle Lancet-Review die potenziellen Risiken der Statin-Therapie (im Sinne eines „Myopathien sind sehr selten und dann auch noch harmlos“). Dabei wird verschwiegen, dass Statine ein erhebliches Interaktionspotenzial besitzen, was gerade bei älteren Patienten zu gravierenden Nebenwirkungen führen kann. Anderseits ist festzustellen, dass die Statine inzwischen häufig überkritisch gesehen werden – was kausal daran liegen dürfte, dass sie in der Vergangenheit aufgrund von Marketingmaßnahmen viel zu unkritisch gesehen wurden. So handelt es sich bei einem Teil der Statin-Anwendung meiner Meinung nach um eine eigentlich nicht erforderliche Über-Therapie, während umgekehrt aber auch bestimmte Subgruppen – z. B. Schlaganfallpatienten – viel zu selten Statine erhalten. Beide Wege erscheinen für den Patienten nicht hilfreich. Entscheidend für den gesamten Therapieprozess ist daher die Indikationsqualität: Die Indikation für die Statin-Anwendung muss streng und zurückhaltend gestellt werden (Risiko-Kalkulation der europäischen ESC-Leitlinien statt der amerikanischen ACC/AHA-Leitlinien, Kombination mit Lifestyle-Modifikation, niedrigste Dosis, optimale Wirkstoffauswahl, Interaktionsprüfung, Risikomanagement, AkdÄ-Empfehlungen). Wenn die Indikation dann aber steht, sollten Statine auf jeden Fall langfristig und mit guter Therapieadhärenz angewendet werden, da sie in dieser Konstellation (optimale Indikationsqualität) sehr wirksam sind und tatsächlich Leben retten können.
d0cF: Herr Prof. Smollich, ich danke Ihnen für dieses Gespräch!
Das Gespräch führte Dr. Friedhelm Mühleib